Neue Erkenntnisse zu B6-Toxizität
Gerade bei neurologischen Erkrankungen, bei ME/CFS und bei Mastzellerkrankungen wird B6 gerne verordnet: Zum einen, weil es "gut für die Nerven" sein soll und auch den Histaminabbau anregen soll. Zu Letzterem habe ich einen ganzen Post verfasst, der die Wirkung von B6 im Histaminstoffwechsel beleuchtet.
Worüber meines Erachtens aber viel zu wenig gesprochen wird, ist die toxische Wirkung von B6 im Falle einer Überdosierung. Denn B6 ist im Gegensatz zu den meisten B-Vitaminen in einem Überschuss nicht harmlos, sondern ironischerweise neurotoxisch. Dies gilt insbesondere für die Form Pyridoxin-HCl, die inaktive Syntheseform, die in den meisten Nahrungsergänzungsmitteln verwendet wird.
Das heißt, gerade die Idee bei einer so vulnerablen Gruppe wie Multisystem-Erkrankten hohe B6-Dosen ohne vorherige Bluttestungen einzusetzen, halte ich für gefährlich, da diese oftmals gerade mit neurologischen Symptomen konfrontiert sind.
Ein Beispiel aus der Praxis und eine exemplarische Produktanalyse
Da mir diese Konstellation mittlerweile mehrfach in der Praxis begegnet ist, möchte ich auf diese Problematik aufmerksam machen. Zuletzt wurde ein Fall mit 25 mg täglicher Einnahme vorgestellt: Die Dosierung war ursprünglich zur Mangelbehandlung auf ärztliche Verordnung angesetzt worden, wurde dann aber nicht mehr hinterfragt und auch nicht nachkontrolliert. Dies führte zu messbar toxischen B6-Spiegeln im Blut, obwohl das Präparat bereits fast eine Woche vor der Testung abgesetzt worden war. Die gemessenen Werte lagen bei über 100 µg/l (Normalwerte für Pyridoxal-5'-Phosphat liegen je nach Labor bei bis zu 30 µg/l).
Um die Dosierungsproblematik zu verdeutlichen, möchte ich exemplarisch ein Präparat analysieren, das in der Mastzell-Community häufig verwendet wird: Das B-Komplex-Präparat "B-Komplex Plus" von Pure Encapsulations enthält 10 mg B6 in Form von Pyridoxin-HCl sowie zusätzlich 10 mg der aktivierten Form Pyridoxal-5'-Phosphat (deutsche Abkürzung: P5P, englische Abkürzung: PLP).
Was bedeutet das konkret?
- Die DGE empfiehlt 1,4 bis 1,6mg täglich
- Dieses Präparat enthält die siebenfache Tagesdosis an Pyridoxin-HCl (der problematischen Form)
- Die Gesamtdosis von 20 mg liegt knapp unter der EFSA-Obergrenze von 25 mg
- Bei täglicher Einnahme über Monate kann dies, besonders bei empfindlichen Personen, bereits kritisch werden!
Die unterschätzte Gefahr: Neue Erkenntnisse zu niedrigeren Dosen
Neuere Fallberichte aus den letzten Jahren untermauern dieses Bild: Die australische Arzneimittelbehörde TGA berichtete 2022 von 32 Fällen peripherer Neuropathie bei Dosen unter 50 mg täglich [3]. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat daher die Obergrenze auf nur 25 mg pro Tag festgelegt – deutlich niedriger als die US-amerikanische Empfehlung von 100 mg [2].
Es gibt sogar einen dokumentierten Fall von Neuropathie bei nur 6 mg täglicher Einnahme über einen längeren Zeitraum [5]. Als Reaktion auf diese Erkenntnisse fordert die TGA seit 2022 für alle Produkte mit mehr als 10 mg B6 pro Tag einen Warnhinweis bezüglich peripherer Neuropathie und hat die maximal zulässige Tagesdosis von 200mg auf 100mg reduziert [3].
Dies macht deutlich: Die Empfindlichkeit gegenüber B6 ist individuell sehr unterschiedlich, und was die Situation noch verschärft: Die meisten Patienten sind sich nicht bewusst, dass sie möglicherweise mehrere B6-haltige Präparate gleichzeitig einnehmen (z.B. Multivitamine + B-Komplex + Magnesium-Präparate mit B6).
Historischer Kontext: Lange Zeit ging man davon aus, dass B6-Toxizität erst ab Dosen von 100 bis 200 mg täglich auftritt. In klassischen Studien wurden in der Regel Fälle mit solch hohen Dosen beschrieben, die zu sensorischer Polyneuropathie bis hin zu Gehstörungen führten. Todesfälle sind keine beschrieben. Die neueren Erkenntnisse zeigen jedoch, dass bereits deutlich niedrigere Dosen problematisch sein können.
Der komplexe Mechanismus: Mehrere Erklärungsansätze
Der genaue Mechanismus der Pyridoxin-Toxizität ist bis heute nicht vollständig geklärt und Gegenstand aktueller Forschung. Mehrere konkurrierende Hypothesen werden für unterschiedliche Dosierungen und Formen diskutiert [2]:
Bei Pyridoxin-HCl (der synthetischen, inaktiven Form):
- Kompetitive Hemmung P5P-abhängiger Enzyme: Pyridoxin konkurriert mit der aktiven Form P5P um die Bindungsstellen an Enzymen. In Zellversuchen von Vrolijk et al. (2017) zeigte nur Pyridoxin-HCl (nicht aber P5P, Pyridoxal oder Pyridoxamin) konzentrationsabhängige Neurotoxizität und hemmte P5P-abhängige Enzyme [1].
- Sättigung der Pyridoxalkinase (PDXK): Bei hohen Pyridoxin-Dosen kann das Enzym, das Pyridoxin zu P5P umwandelt, überlastet werden, wodurch nicht-phosphoryliertes Pyridoxin akkumuliert.
- Bildung reaktiver Zwischenprodukte: Quinon-methid-artige Verbindungen könnten während des Metabolismus entstehen.
- Störung der Neurotransmitter-Synthese: Die Hemmung P5P-abhängiger Enzyme betrifft auch die Produktion von GABA, Serotonin und Dopamin, was zur neurologischen Symptomatik beitragen könnte [2].
Bei sehr hohen P5P-Dosen (>300mg):
- Direkte Aldehydtoxizität: Die Aldehydgruppe von P5P könnte bei extrem hohen Konzentrationen direkt neurotoxisch wirken. Dies würde erklären, warum auch bei P5P ab sehr hohen Dosen Vorsicht geboten ist.
Aktuelle wissenschaftliche Einschätzung: Die kompetitive Hemmung P5P-abhängiger Enzyme durch Pyridoxin-HCl wird als wahrscheinlichster Mechanismus für die bei niedrigen bis mittleren Dosen (10 bis 200 mg) beobachtete Neurotoxizität angesehen [1,2]. Die anderen Mechanismen könnten bei sehr hohen Dosen oder bei direkter P5P-Gabe eine Rolle spielen.
Das klinische Paradoxon bleibt gut belegt: Die Symptome einer Pyridoxin-HCl-Überdosierung ähneln stark denen eines B6-Mangels, was darauf hindeutet, dass die biologische Funktion des aktiven P5P trotz ausreichender oder sogar erhöhter Gesamtspiegel beeinträchtigt wird [1,4].

Klinische Symptome der B6-Toxizität
Die klassische Präsentation der Pyridoxin-Toxizität ist eine periphere sensorische Neuropathie mit:
- Taubheitsgefühl in Strumpf-Handschuh-Verteilung
- Brennen und Kribbeln in den Extremitäten
- Gestörtes Vibrationsempfinden
- In schweren Fällen: Gangstörungen und Ataxie
- Seltener: Autonome Dysfunktion
Da die Symptome dem B6-Mangel so ähnlich sind, steigern manche leider dann die Dosis weiter.[4]
Die Rolle von Pyridoxal-5'-Phosphat (P5P)
Eine wichtige Frage für die Praxis: Ist P5P sicherer als Pyridoxin HCl?
Die Studienlage deutet darauf hin: Ja, P5P scheint bei üblichen Supplementierungsdosen (bis ~100mg) deutlich weniger neurotoxisch zu sein. In den Zellversuchen von Vrolijk et al. zeigte P5P keine Toxizität, während Pyridoxin HCl konzentrationsabhängig Zellen schädigte [1]. Dies deckt sich mit epidemiologischen Daten: Nahezu alle dokumentierten Fälle von B6-Neuropathie sind mit Pyridoxin HCl, nicht mit P5P assoziiert [2,3].
Jedoch: Auch bei P5P wird ab Dosen über 300 mg täglich Vorsicht empfohlen [6]. Bei solch extrem hohen Dosen könnten andere Mechanismen (wie direkte Aldehydtoxizität) relevant werden.
Wichtig zu verstehen: Wenn ein Präparat beide Formen enthält (wie viele B-Komplexe), tragen beide zum Gesamt-B6-Spiegel bei, aber das Risiko geht primär von der Pyridoxin-HCl-Komponente aus.
Bei Präparaten mit beispielsweise 10 mg Pyridoxin HCl + 10 mg P5P liegt die Gesamtdosis bei 20 mg – die problematischen 10 mg Pyridoxin-HCl sind dabei der kritischere Anteil.
Die lange Halbwertszeit: Warum Absetzen nicht sofort hilft
Ein weiterer kritischer Punkt, der oft übersehen wird: B6 reichert sich in Muskelzellen und Nervengewebe an.
Nach dem Absetzen kann es Monate dauern, bis B6 vollständig aus dem Körper ausgeschieden ist [2,4]. Das erklärt, warum im eingangs erwähnten Fall nach einer Woche Karenz noch toxische Werte im Blut nachweisbar waren.
Die Symptome können daher auch nach dem Absetzen noch fortbestehen und bessern sich in der Regel im Zeitverlauf. In ganz seltenen Fällen bei massiver Überdosierung scheinen neurologische Schäden dauerhaft bestehen zu bleiben [4].
Was bedeutet das für die Praxis?
Da mir diese Konstellation mittlerweile mehrfach begegnet ist – auch bei Dosierungen, die generell sehr leicht im Einzelhandel, über Amazon oder in Nahrungsergänzungsmittel-Präparaten enthalten sind – halte ich eine verstärkte Aufklärung für dringend notwendig.
Aus der wissenschaftlichen Literatur ergeben sich folgende Empfehlungen:
- Vor jeder B6-Supplementierung: Blutspiegel testen.
- Bei laufender Supplementierung: Regelmäßige Kontrollen, besonders bei Dosen >10 mg täglich.
- Präparate überprüfen: Viele Patienten nehmen unwissentlich mehrere B6-haltige Produkte (Multivitamine, Magnesium-Präparate, B-Komplexe). Die Dosen addieren sich!
- Bevorzugt P5P statt Pyridoxin-HCl verwenden, jedoch auch hier Vorsicht bei hohen Dosen.
- Bei neurologischen Symptomen unter B6-Einnahme: Sofort absetzen und Spiegel kontrollieren.
- Aufklärung der Patienten: Viele wissen nicht, dass "natürliche" Vitamine nicht automatisch harmlos sind.
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Lisa
Referenzen
[1] Vrolijk MF, Opperhuizen A, Jansen EHJM, Hageman GJ, Bast A, Haenen GRMM. The vitamin B6 paradox: Supplementation with high concentrations of pyridoxine leads to decreased vitamin B6 function. Toxicol In Vitro. 2017 Oct;44:206-212.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28716455/
[2] Hadtstein F, Vrolijk M. Vitamin B-6-Induced Neuropathy: Exploring the Mechanisms of Pyridoxine Toxicity. Adv Nutr. 2021 Oct 1;12(5):1911-1929.
Umfassendes Review zu konkurrierenden Hypothesen des Toxizitätsmechanismus
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8483950/
[3] Australian Therapeutic Goods Administration (TGA). Peripheral neuropathy with supplementary vitamin B6 (pyridoxine). Medicines Safety Update, July 2023.
https://www.tga.gov.au/news/safety-updates/peripheral-neuropathy-supplementary-vitamin-b6-pyridoxine
[4] Hemminger A, Wills B. Vitamin B6 Toxicity. StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2023.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK554500/
[5] Kościńska-Shukla I, et al. Underestimated pyridoxine consumption and neurotoxicity: a novel manifestation with rheumatologic relevance - a case-based review. Clin Rheumatol. 2025.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC12106547/
[6] Bayat A, et al. Pyridoxine or pyridoxal-5'-phosphate treatment for seizures in glycosylphosphatidylinositol deficiency: A cohort study. Dev Med Child Neurol. 2022;64(6):739-747.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/dmcn.15142
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